
Leseproben zu meinen Büchern
Master and Servant - The hell inside you, Band 1
Prolog
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»Du bleibst da drin, Darling«, schnurrte die Stimme, die sich wie Messerstiche in ihr Gehirn bohrte, »schön eng, so dass du dich nicht bewegen kannst. Jetzt schließe ich den Deckel und wenn du Glück hast, hole ich dich in ein paar Stunden raus. Wenn du Pech hast ...« Er sprach nicht weiter, sondern ließ ihr Kopfkino den Rest seines perfiden Spiels erledigen und lachte nur gehässig.
Dakota konnte kaum atmen und erdrückende Panik schoss ihr durch den Blutkreislauf. Sie sah diesem Etwas in die Augen, wie er sein sadistisches Spiel, ihre Angst, die Macht über sie genoss. Er allein entschied über ihr Leben oder ihren Tod und nichts davon konnte sie frei wählen. Alles lag in seiner Hand.
Der Klebestreifen über ihrem Mund hinderte sie daran, zu schreien. Sie lag in einer engen Kiste, kaum größer als ein Sarg. Um sie herum war es dunkel. Nur vereinzelte Lichtpunkte durch Fackeln an den Wänden erhellten punktuell einige Bereiche und warfen dunkle Schatten.
Der Deckel schloss sich über ihr und mit ihm verschwanden die Augen, die sie bis zu ihrem letzten Atemzug nie vergessen würde. Ein weiterer Schub Adrenalin schoss durch ihren Körper. Doch sie konnte es nicht nutzen. Die Fesseln hinderten sie an jeder Bewegung. Sie war seine Gefangene. Nur er wusste, wo sie war. Nur er entschied, ob sie jemals wieder das Tageslicht erblicken oder hier ihr Leben aushauchen würde ...
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1. Dakota
​»Verdammt noch mal, nein!«, schrie ihr Vater sie so laut an, dass sie das Gefühl hatte, die Fensterscheiben würden allein von der Druckwelle seiner Stimme aus den Rahmen gesprengt werden.
»Aber ...«, versuchte sie dazwischenzureden, doch sie hatte keine Chance. Wenn ihr Vater wütend war, hielt sie besser den Mund und schwieg. Das Thema war ein heißes Eisen im Hause Kubiak.
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»Dakota-Eleonore Kubiak, jetzt rede ich!« Er atmete tief durch, während seine stahlgraublauen Augen sie eingehend musterten. Ihr brach der Schweiß aus. So schlimm hatte sie sich das Gespräch nicht vorgestellt. »Ich habe Nein gesagt, und das ist mein allerletztes Wort. Noch einen Ton von dir heute in dieser Angelegenheit und ich schwöre dir bei Gott, ich werde dich mit deinen zweiunddreißig Jahren übers Knie legen, dass dir Hören und Sehen vergeht.« Er war wirklich wütend. Diese Strafe hatte er ihr seit vielen Jahren nicht mehr angedroht. Sie reizte es besser nicht aus, denn er meinte seine Drohung bitterernst. Dieser Scham wollte sie nur zu gern aus dem Weg gehen. Vielleicht konnte sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal anbringen. Wenn er sich abgeregt hatte. »Haben wir uns verstanden?«, hakte er nach und musterte sie eiskalt durch die Gläser seiner randlosen Brille, so dass es ihr die Gänsehaut über den Körper jagte. »Ja, Papa. Ich habe dich verstanden«, erwiderte sie resigniert. »Dann geh mir aus den Augen. Vor morgen früh will ich dich nicht mehr zu Gesicht bekommen. Verschwinde in dein Zimmer und da bleibst du.« Im Affekt ballte sie die Hand zu einer Faust. Hausarrest. Als erwachsene Frau. Hass wallte in ihr auf und zugleich schämte sie sich für dieses Gefühl. Es war ein Thema, dass ihr sehr am Herzen lag. Warum konnte er das nicht verstehen? Plötzlich bekam sie eine Ohrfeige, so dass ihr Kopf zur Seite flog wie ein Tennisball, der den Schläger mit voller Wucht getroffen hatte. Scharf sog sie die Luft ein, keuchte auf und hob den Blick. Sie sah ihren Vater vor sich stehen. Tränen schossen ihr in die Augen und der Schmerz drohte sie zu überwältigen. Nur mit Mühe gelang es ihr, weitere Gefühle zu unterdrücken. Wortlos deutete er auf die schwere Tür seines Büros. Dakota biss die Zähne zusammen, hielt den Atem an, wandte sich von ihm ab und verließ mit bemüht ruhigen Schritten den Raum. Erst als die Tür leise ins Schloss gefallen war, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Hastig rannte sie ein Stockwerk nach oben. Mit größter Beherrschung schloss sie möglichst leise die Tür ihres Zimmers. Dann warf sie sich auf ihr Bett, vergrub ihr Gesicht in den Kissen und weinte bitterlich. Sie liebte und achtete ihren Vater mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt. Aber in diesem Augenblick hasste sie ihn aus tiefstem Herzen. Ihre linke Gesichtshälfte stand in Flammen. Sie konnte sich den Blick in den Spiegel ersparen, denn sie spürte deutlich den Abdruck seiner Hand. Man würde ihn noch morgen sehen. Es war lange her, dass er sich so aufgeregt hatte, und allein an der Wucht seines Schlags konnte sie die Wut spüren. Mit diesem Thema hatte sie ihn sowieso bis aufs Blut gereizt. Die geballte Faust hatte seine Wut verstärkt. Er fühlte sich im Recht. Von Beginn an hatte er ihr verboten, darüber zu sprechen. Aber Dakota konnte es nicht auf sich beruhen lassen. Ohne sein Einverständnis musste sie ihre Träume und ihren Berufsweg aufgeben. Doch je mehr Zeit verging, desto klarer wurde ihr, dass sie sie nicht bekommen würde. Ihr Vater war nie ein Mann gewesen, der über gewisse Dinge hinwegsehen konnte. Dazu waren die private Person Ansgar Kubiak und der General zu sehr miteinander verschmolzen. In jeder Lebenslage verlangte er Respekt von seinem Gegenüber. Vor allem von ihr. Doch in diesem Moment verweigerte sie ihm diesen, rebellierte im Stillen. Dabei war das nur ihre Art, ihre Wut zu verpacken. Aber das hatte er nie anerkennen können. In dieser Hinsicht war sie ihrer Mutter viel zu ähnlich. Impulsiv und emotional. Zwei Eigenschaften, die sie das Leben gekostet hatten, so dass Dakota seit ihrem siebten Lebensjahr nur noch ihren Vater hatte und bei ihm aufgewachsen war. Die erste Zeit war unglaublich schwer für sie gewesen. Ihre Mutter war eine warmherzige Frau, die viel lachte und ihrer Tochter so manchen Unsinn durchgehen ließ. Ihr Vater war das genaue Gegenteil. Nach der Schule war er direkt zur Bundeswehr gegangen und hatte dort Karriere gemacht. Heute hatte er den höchsten Rang im Verband inne und er hielt die Zügel fest in der Hand. Er allein entschied über die Bundeswehr, ihre Einsätze, das Vorgehen, das Personal und allem, was damit zusammenhing. Dies handhabte er auch bei seiner Familie so. Auch wenn Dakota erwachsen war, bestimmte er immer noch über einen großen Teil ihres Lebens, da sie ihr Beruf unweigerlich miteinander verband. *** Es hämmerte an ihrer Zimmertür. Irritiert öffnete sie mühsam die Augen. Offenbar reagierte sie nicht schnell genug, denn die Tür wurde aufgerissen. Ein heller Lichtstrahl fiel ins Zimmer und sie sah die stämmige, durchtrainierte Gestalt ihres Vaters. Er schlug mit der Hand auf den Lichtschalter und die Helligkeit blendete sie einen Moment. »Aufstehen. Essen. In fünf Minuten bist du unten am Esstisch, Fräulein«, wies er sie in strengem Ton an, drehte sich um, ließ die Tür offen und verschwand. Sofort raffte sich Dakota auf, denn ihr Körper reagierte mit dem Automatismus, den sie sich über Jahre antrainiert hatte. Kurz ging sie ins Bad, dann eilte sie ins Esszimmer. Gerade noch rechtzeitig, wie sie am Blick ihres Vaters merkte. »Setz dich.« Wortlos gehorchte sie seinem Befehl. Noch immer war er wütend auf sie. Sie würde sich hüten, ihn weiter zu reizen. Für einen großen Teil der Menschen war er aufgrund seiner Autorität ohnehin kein angenehmer Zeitgenosse. In diesem Moment konnte sie nachempfinden, warum andere sich so fühlten. Es war ein unangenehmes, bedrückendes Gefühl. Er ließ sie spüren, wenn sie etwas falsch gemacht hatte. Doch in den meisten Fällen war er sehr gerecht. Nur in diesem kam sich Dakota gerade mehr als ungerecht behandelt vor. Auf ihrem Platz stand ein Teller, auf dem sich das Essen zu stapeln schien. Zu gerne hätte sie das Geschirr an die Wand geschmissen, sich gegen ihren Vater aufgelehnt und wäre weggelaufen. Aber dazu fehlten ihr die Kraft und der Mut. Würde er sie zu fassen bekommen, wäre die Hölle los. Schaffte er das nicht im privaten Rahmen, wäre das spätestens auf den Dienstweg der Fall. Es wäre ein Anruf für ihn, und was sie dann erwartete, wollte sie nicht wissen. Er hatte schon einmal bewiesen, wie schnell es gehen konnte. Sonst wäre sie nicht hier und nicht in dieser Situation. Am liebsten hätte sie ihn an seine Worte erinnert, dass er sie heute nicht mehr sehen wollte. Doch sie kannte den Grund, warum er sie hierher bestellt hatte und sie unter seiner Aufsicht essen musste. Er konnte die Kontrolle nicht aufgeben. Zudem hatte er sie in einem erbärmlichen Zustand zurückgeholt, mehr tot als lebendig. Den Einsatz in Afghanistan hätte sie fast nicht überlebt. Nicht weil sie unter Beschuss geraten war, sondern weil ihre Gesundheit nicht mehr mitgespielt hatte. Dabei hatte sie die selbst riskiert, denn sie hatte zu essen aufgehört. Aber über die Ursachen konnte sie noch immer nicht sprechen. Den Weg zum Auto hatte er sie stützen müssen. Kein Wort hatte er darüber verloren. Bis heute nicht. Seitdem lebte sie wieder zu Hause unter seiner Kontrolle. Dakota hatte das Gefühl, sich nicht mehr bewegen zu können, ohne dass General Ansgar Kubiak jeden ihrer Schritte mit Argusaugen beobachtete. »Iss, Dakota.« Wortlos griff sie nach der Gabel. Ohne Geschmack und Gefühl schob sie sich jeden Bissen in den Mund, kaute mechanisch und schluckte ihn hinunter, nur um das Ganze zu wiederholen, bis der Teller leer war. Dieses Schweigen, das aufgrund ihres Fehltritts herrschte, war für sie fast unerträglich. Aber so war ihr Vater. Er konnte seine Stimmung ohne ein Wort ausdrücken und das beherrschte er im Privaten wie im Beruflichen. Oft genug hatte sie das erlebt. Schließlich hatte sie zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn unter ihm gearbeitet. Oft hatte sie das Gefühl gehabt, dass er sie härter anfasste als andere und sie mindestens doppelt so viel litt. Anfangs hatten ihre Kameraden sie gemieden, weil sie die Tochter eines hochrangigen Vorgesetzten war. Doch als sie merkten, dass Dakota keine Sonderbehandlung bekam - im Gegenteil - wurde sie ein normales Mitglied der Truppe. Es war nicht geplant, dass sie unter ihrem Vater dienen sollte. Doch durch mehrere Ausfälle von Vorgesetzten hatte es sich ergeben. Zumal er zum damaligen Zeitpunkt noch nicht diese Position von heute innehatte. Diese Zeit war die Hölle für sie gewesen und sie hatte es mehrmals verflucht, sich verpflichtet zu haben. Zum Glück hatte sie heute einen anderen Chef. Auch wenn die Art die Gleiche war, machte es für sie doch einen Unterschied. Zu ihrem Vorgesetzten hatte sie einen professionellen Abstand. Bei ihrem Vater erwarteten sie im schlimmsten Fall abends entsprechende Gespräche und Maßregelungen am Essenstisch. Denn ihre Fehltritte kamen bei ihm an, da er und ihr Vorgesetzter miteinander befreundet waren. Zudem hatte ihr Vater noch immer ein Auge auf sie und das würde sich wohl so schnell auch nicht ändern. ​ 2. Kay Als sein Telefon klingelte, schreckte er hoch. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass es nicht sein Diensthandy war, sondern sein privates. »Bongartz?«, fragte er und schüttelte mühsam den Schlaf ab. »Kubiak«, für einen Moment war es still in der Leitung. »Habe ich dich geweckt?« »Hm. War spät heute.« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Sie tauschten ein paar dienstliche Sätze aus. Aber Ansgar war niemand, der sich auf Smalltalk einließ und auch er konnte dem nichts abgewinnen. Sie kamen lieber gleich zur Sache. »Hast du morgen Abend Zeit und Lust, zum Essen zu kommen?«, fragte sein Chef. »Sicher. Gibt es etwas Besonderes?« »Ich möchte mit dir über Dakota reden.« Kay zog eine Augenbraue hoch. »Ist mit ihr alles in Ordnung?«, fragte er vorsichtshalber, da er nicht einschätzen konnte, in welche Richtung dieses Gespräch führen würde. »Im Rahmen ihrer Möglichkeiten und der Umstände, die du kennst, ja. Aber ich möchte noch etwas anderes mit dir besprechen, was ich eigentlich schon viel zu lange vor mir herschiebe. Doch das möchte ich lieber morgen privat mit dir besprechen. Du weißt, Telefonleitungen sind nicht immer sicher.« Fast musste er grinsen. Sein Chef war ein Mann des alten Schlags. »In Ordnung. Um wie viel Uhr?« »Passt dir neunzehn Uhr?« Er willigte ein. Als er aufgelegt hatte, sah er Dakota vor seinem inneren Auge. Sie war etwa einen Meter fünfundsiebzig groß, sehr schlank, hatte langes bordeauxrotes Haar und graugrüne Augen, die je nach Stimmung die Farbe wechselten. Sie sah ihrem Vater zum Verwechseln ähnlich. Nur die Augen und die Haarfarbe hatte sie von ihrer Mutter. Ansonsten war sie ein weibliches Abbild von General Kubiak. Wahrscheinlich hatte sie damals alle überrascht, als sie sich für eine Karriere bei der Bundeswehr entschied. Doch sie schlug eine andere Laufbahn ein als ihr Vater. Sie wurde Scharfschützin einer Sondereinheit, er war lange bei der Luftwaffe. Und sie war die Beste, die der Verband je hervorgebracht hatte. Bis sie eines Tages zusammenbrach. Er erinnerte sich noch genau an den Anruf, der ihn veranlasst hatte, sofort seinen Vorgesetzten und somit ihren Vater anzurufen. Ansgar hatte sie umgehend aus Afghanistan abziehen lassen. Seitdem war sie offiziell dienstunfähig. Ob Dakota damit einverstanden war, wusste niemand, denn er hatte über ihren Kopf hinweg entschieden. Aber ihr Vater und sein Chef hatten ihr mit dieser schnellen Entscheidung das Leben gerettet. *** Am nächsten Abend klingelte er pünktlich bei den Kubiaks. Ansgars Haushälterin öffnete und führte ihn ins Wohnzimmer. Dort saß sein Chef gemütlich in einem Sessel und las in einem Buch. »Kay, danke, dass du Zeit gefunden hast und hergekommen bist«, begrüßte er ihn, stand auf und die beiden umarmten sich. Sie waren schon lange befreundet und Kay wollte diese Freundschaft nicht missen. »Danke für die Einladung.« Sie wechselten noch ein paar Worte und unterhielten sich über die Arbeit, bevor die Haushälterin der Kubiaks sie ins Esszimmer bat. »Weiß Dakota Bescheid?«, fragte Ansgar sie. »Ja, ich habe sie informiert. Sie müsste jeden Moment hier sein.« »Ich danke Ihnen.« Dakota kam gerade herein, als er mit ihrem Vater den Raum betrat. Bei seinem Anblick zuckte sie zusammen, während er sie schweigend musterte. Noch immer war sie blass. Schön im klassischen Sinne war sie nicht, aber auf ihre eigene Art. Kay stand ohnehin nicht auf das, was jeden anzog. »Dakota, General Bongartz wird heute mit uns zu Abend essen«, verkündete ihr Vater. Kay wunderte sich ein wenig, dass er ihr das offenbar nicht vorher gesagt hatte, denn sie wirkte überrascht. »Guten Abend, General Bongartz«, begrüßte sie ihn zurückhaltend, fast schüchtern. Wahrscheinlich war es für sie immer noch ein seltsames Gefühl, ihren Chef privat zu erleben. Dabei war dies nicht zum ersten Mal der Fall. »Guten Abend, Dakota«, erwiderte er. »Setzt euch«, forderte ihr Vater und ein strenger Blick traf seine Tochter, die ihren direkt senkte. Kay bemerkte die Verfärbung auf ihrer Wange, die wie ein Handabdruck aussah. Er wunderte sich nicht, denn er wusste um ihr aufbrausendes Temperament und er kannte ihren Vater. Der ließ sich beruflich kein unverschämtes und anmaßendes Verhalten bieten. Privat schon gar nicht. Es war ihr peinlich, dass er ihr das ansah, aber sie schaffte es mit Mühe, bis auf einen kurzen Ausrutscher ihre Fassade aufrechtzuerhalten. Nach dem Essen schickte Ansgar sie direkt wieder in ihr Zimmer. Es machte den Eindruck, als wäre ihr dies recht. Die ganze Zeit über hatte sie stur auf ihren Teller gestarrt und das Essen förmlich in sich hineingestopft. Noch immer schien sich ihr Zustand nicht gebessert zu haben. Sie war unfassbar dünn und wirkte dadurch sehr zerbrechlich. Stämmig war sie nie gewesen. Aber vor ihrem Einsatz war sie extrem durchtrainiert und muskulös. Die beiden Männer setzten sich mit einem Glas Whiskey vor den Kamin. »Sie interessiert dich, oder?«, fragte Ansgar ihn direkt. Innerlich seufzte er. Er hatte vergessen, wie sehr dieser Mann seine Umgebung wahrnahm. »Es ist schwer, sie uninteressant zu finden, Ansgar«, antwortete er ehrlich. »Allerdings bin ich fast zwanzig Jahre älter als sie und noch dazu ihr Vorgesetzter.« Sein Gegenüber lachte herzlich. »Beides ist kein Hindernis. Ich sehe es eher als Problem, dass nur wenige Männer mit ihr zurechtkommen. Sie ist sehr charakterstark. Dagegen muss man sich durchsetzen können.« »Sie hat den Charakter ihres Vaters.« Ansgar lachte erneut. »Das stimmt. Aber sie hat das Temperament meiner verstorbenen Frau und ich kann dir aus Erfahrung sagen, dass man dem gewachsen sein muss. Sie war wie ein Orkan, wenn ihr Temperament mit ihr durchgegangen ist.« »Worauf willst du hinaus?« »Meine Tochter ist jetzt zweiunddreißig Jahre alt. Sie hatte zwar die eine oder andere Liebschaft, aber eine richtige Beziehung habe ich in all der Zeit vergeblich gesucht. Ich wünschte, sie hätte einen Mann an ihrer Seite.« Er trank von seinem Whisky. »Dich zum Beispiel.« »Wie kommst du ausgerechnet auf mich?«, fragte er verblüfft. Sein Chef schwenkte den honigfarbenen Inhalt durch das Glas und betrachtete ihn mit wissendem Blick. »Meinst du, ich hätte nicht bemerkt, wie du sie ansiehst? Abgesehen davon bist du mir und meiner Art sehr ähnlich. Du würdest mit ihr zurechtkommen, ohne dass sie dir auf der Nase herumtanzt und ich dich in einem Jahr einweisen muss.« Kay schmunzelte. Ansgar hatte mehr ins Schwarze getroffen, als ihm lieb war. »Hat Dakota nicht ein Wörtchen mitzureden?«, wandte er ein. Ansgar sah ihn über sein Glas hinweg an, das er gerade zum Mund führen wollte. »So? Hat sie das?« Kubiak schüttelte den Kopf. »Sie hat kein Mitspracherecht. Manchmal muss man Menschen eben zu ihrem Glück zwingen. Wie lange soll ich mir das noch ansehen?« Kay lächelte leicht. »Das habe ich mir gedacht.« »Lass dir das durch den Kopf gehen. Du musst weder heute noch morgen eine Entscheidung treffen.« »Aber du würdest sie gern in festen Händen wissen«, stellte Kay fest und trank von dem Whisky, der ihm brennend die Kehle hinunterlief. »Nach der Sache mit Flaherty? Auf jeden Fall.« Kay dachte an den Mann. Ein Narzisst wie er im Buche stand, der Dakota beinahe zerstört hatte. Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie ihr Vater sie fast ins Auto getragen hatte. Aus der fröhlichen jungen Frau war ein Schatten ihrer selbst geworden. Viele dachten, der Einsatz hätte sie so gezeichnet. Aber das war nicht der Fall. Kay hatte von ihrem Oberleutnant vorab die Informationen erhalten, dass etwas mit einem Kameraden vorgefallen war. Daraufhin trieb er sie so in die Enge, dass er die Wahrheit aus ihr herausbekam. »Seien Sie froh, dass Sie noch im Dienst sind, Leutnant Kubiak, sonst würde ich das jetzt aus Ihnen heraus prügeln«, hatte er geknurrt, als sie immer noch nicht reden wollte. Dann griff er zum Telefon. »Verbinden Sie mich mit General Ansgar Kubiak«, hatte er gefordert. In diesem Moment hatte Dakota den Kopf hochgerissen und »bitte nicht« gewimmert. »Dann reden Sie endlich!«, hatte er gefaucht und den Hörer aufgeschlagen. Er hatte nicht gewählt. Doch das wusste sie nicht. Kay nutzte jedoch dem Umstand aus, dass Dakota in manchen Situationen regelrecht panisch vor ihrem Vater war. Er musste wissen, was passiert war. Da war es aus ihr herausgebrochen und seine beste Scharfschützin war vor seinen Augen emotional zusammengebrochen. Er war entsetzt. Dakota war so zäh und ein Mann konnte sie brechen. Das hätte er niemals für möglich gehalten. Sein nächster Anruf galt General Kubiak. »Bongartz. Ansgar, deine Tochter ist vorhin zurückgekommen. Du solltest so schnell wie möglich herkommen. Alles Weitere erkläre ich dir, wenn du hier bist«, hatte er kurz und bündig gesagt. »Ist sie verletzt?«, fragte er sachlich. »Körperlich nein. Psychisch ja. Sie ist komplett gebrochen. Aber komm bitte her, ich möchte das nicht am Telefon mit dir besprechen.«
Master and Servant - You won't catch me,
Band 2
Prolog
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Du hast es mir versprochen, schoss es ihr durch den Kopf und sie blickte in seine stahlgraublauen Augen. Die Tränen wollten sich den Weg über ihre Wange bahnen, doch sie hielt sie gewaltsam zurück.
Was tust du mir an? Was waren all deine Versprechen wert, die du mir gegeben hast? War alles gelogen? Hast du mich nur für deine Zwecke so eingelullt? Ich war so dumm, dir zu glauben.
Es tat so weh, ihn hier in dieser Umgebung zu sehen, wie er sie mit diesem kalten Blick musterte, als wäre sie ein Stück Dreck.
Das Atmen fiel ihr schwer. All die Gefühle stürzten auf sie ein und die Liebe, die sie für diesen Mann empfunden hatte, löste sich auf wie ein Holzscheit im Feuer.
Ansgar Kubiak, was bist du nur für ein widerwärtiger Mensch?
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1. Ansgar
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Sein Telefon klingelte. Im Halbschlaf nahm er ab. »Ansgar, wir haben ein Problem«, hörte er Kays Stimme aus dem Hörer. »Moment, ich muss erst wach werden«, antwortete er verschlafen und knipste sein Nachtlicht an. Müde rieb er sich das Gesicht. Es war drei Uhr morgens, wie sein Radiowecker auf dem Nachttisch anzeigte. »So, jetzt. Was ist los?« »Kannst du herkommen? Das musst du mit eigenen Augen sehen. Sonst glaubst du mir kein Wort oder fragst mich, ob ich getrunken habe.« Auch Kay klang erschöpft. Wäre es nicht so spät, hätte er sicher über diese Bemerkung gelacht. »Gib mir dreißig Minuten.« So stand er in der veranschlagten Zeit mit einer Tasse Kaffee in der Hand in Kays Büro in der Kaserne. »Erzähl«, verlangte er. Irgendetwas musste passiert sein, dass keinerlei Aufschub duldete, sonst hätte er ihn nachts nicht aus dem Bett geholt. Kay fuhr sich mit der Hand durch das kurze schwarz-graue Haar. »Erinnerst du dich an Dakotas und Mattheis Erzählungen aus Afghanistan? Die Sache mit Flaherty?« »Natürlich. Schließlich war meine Tochter davon betroffen. Warum?« »Ich glaube, wir haben das nächste Opfer.« Fassungslos sah er seinen Schwiegersohn an. »Das kann nicht sein, Kay. Flaherty sitzt. Er ist verurteilt und wird das Gefängnis für den Rest seines Lebens nicht mehr verlassen. Geflohen ist er auch nicht, der erste Anruf wäre bei mir eingegangen.« »Das weiß ich. Zwischen Dakota, Matheis, Steiner und heute liegt mehr als ein Jahr. Das passt nicht zusammen. Doch ich schaue in dieselben leeren Augen und sie verhält sich genauso. Meines Erachtens noch schlimmer.« Der Kaffee wollte ihm hochkommen. »Wer ist sie und wo befindet sie sich?«, fragte Ansgar mit harter Stimme. »Dylan-Soraya Odebrecht. Der Name sagt dir wahrscheinlich nichts. Sie ist eine unscheinbare Frau und bisher auch nicht in Erscheinung getreten. Pilotin. Dakota ist bei ihr. Sie sind nebenan.« »War sie in Afghanistan?«, fragte er. »Ja, sie ist vorhin zurückgekommen.« »Im regulären Turnus? Oder im Austausch?« »Regulär.« Seine Augenbraue hob sich. Kays Worte kamen ihm in den Sinn, dass es noch schlimmer gewesen wäre als bei Flahertys ersten drei Opfern. In diesem Zustand sollte sie einen normalen Auslandseinsatz überstanden haben? Wie war das möglich? Seine Tochter war eine gefestigte und charakterstarke Person, aber sie war unter diesen Bedingungen nach wenigen Monaten zusammengebrochen. Odebrecht sollte ein halbes Jahr durchgehalten haben? Wenn dem so war, war er beeindruckt. Er hatte mit eigenen Ohren gehört, was dieser Mann anderen angetan hatte, und er war hart im Nehmen. Schließlich hatte er in seinem Soldatenleben mehr als genug erlebt. Aber das, was er gehört hatte, trieb selbst ihn fast in den Wahnsinn. Sie verließen sein Büro und klopften einen Raum weiter an Dakotas Tür. Kurz darauf betraten sie das Zimmer. Seine Tochter hockte auf dem Boden und versperrte ihm die Sicht auf die Frau, deretwegen er hier war. Mit versteinerter Miene blickte Dakota auf. Stechend grüne Augen verrieten ihre Wut und ihre Überforderung mit der Situation. Langsam erhob sie sich, schüttelte den Kopf und kam auf sie zu. »Guten Morgen, General Kubiak«, begrüßte sie ihn. Kay strich sie leicht und kaum sichtbar über den Handrücken. Da sie im Dienst waren, hielt sich Dakota an die Regeln. »Guten Morgen, Leutnant«, antwortete er mit einem kurzen Nicken. Sein Blick fiel auf die Frau, die auf dem Boden kauerte und vor sich hin starrte. Ihr ganzer Körper war verkrampft und drückte Angst aus. Ihre langen blonden Haare hingen ihr über die Schultern. Nur das Barett verhinderte, dass sie ihr ins Gesicht fielen. Ihr Blick war starr und sie rührte sich nicht von der Stelle. Im ersten Moment bezweifelte er sogar, dass sie überhaupt atmete. »Ich komme nicht zu ihr durch«, erklärte Dakota. »Es ist, als würde jedes Wort an ihr abprallen, wie an einer unsichtbaren Wand. Als wäre sie geistig völlig abwesend.« »Steht sie womöglich unter Beruhigungsmitteln?«, fragte Ansgar und musterte die Blondine. »Ich weiß es nicht.« Er legte sein Handy und die Autoschlüssel auf Dakotas Schreibtisch. Auch seine Jacke zog er aus. Dann ging er zu der Frau. Wie zuvor seine Tochter hockte er sich vor sie. Sie reagierte nicht. Nahm sie ihn überhaupt wahr? Registrierte sie die Umgebung? Wusste sie, wo sie war? »Odebrecht«, sprach er sie deutlich an. »Sehen Sie mich an.« Keine Reaktion. Erneut wiederholte er seine Aufforderung, nur lauter. Nichts. Nicht einmal ein Zucken der Gesichtsmuskeln. Er umfasste ihr Kinn und drückte es nach oben. Ihre Augen folgten nicht, sondern starrten weiter auf den Boden. Als hätte sie dort etwas Interessantes entdeckt, das sie nicht loslassen konnte. Offenbar hatte sie gar nicht bemerkt, dass er sie berührt hatte. »Odebrecht!«, rief er bestimmt. Nichts. »Dylan!« Ihr Kinn zuckte leicht, aber ihr Verhalten änderte sich nicht. Er stand auf und ging zu den beiden zurück. »Hat einer von euch eine Taschenlampe?«, fragte er und sah zwischen seiner Tochter und seinem Schwiegersohn hin und her. Dieser zog sie wortlos aus der Seitentasche seiner Armeehose und reichte sie Ansgar. Damit zurück bei Odebrecht, kniete er sich wieder hin, ergriff ihr Kinn und drückte es nach oben. Aber sie starrte weiter zu Boden. »Ich brauche einmal Hilfe, bitte«, sagte er. Sofort kamen beide zu ihm. »Ziehen Sie die Augenlider einmal nach oben«, wies er Kay an. Als dieser seinem Befehl nachkam, leuchtete er ihr mehrmals in die Augen. »Sie muss auf die Krankenstation. Ihre Pupillen reagieren sehr verzögert. Sie hat definitiv etwas intus.« »Nur was?«, warf Kay ein, während Dakota bereits telefonierte. »Das ist eine gute Frage. Lassen Sie das Blut auf Beruhigungsmittel und Drogen untersuchen. Eines von beiden wird es sein.« Vorsichtig ergriff er ihre Hände, da sie krampfhaft die linke in der rechten hielt. »Die Hand muss dringend behandelt werden. Das sieht nach einem Bruch aus.« Kay sog scharf die Luft ein. »Setzen wir gleich noch Schmerzmittel auf die Liste. Sie zuckt nicht einmal zusammen, obwohl sie brutale Schmerzen haben muss.« »Das kommt darauf an, ob sie unter Drogen steht. Sie wissen doch, wie sich Menschen verhalten, wenn sie Kokain im Kreislauf haben.« »Nicht umsonst nennt man sie lebende Tote.« »Richtig. Denen können Sie alles brechen und trotzdem stehen sie immer wieder auf.« Er betrachtete die Frau vor sich. »Lassen Sie sie gründlich durchchecken. Irgendetwas sagt mir, dass dort Überraschungen warten und keine positiven.« »Wir sollen sie herbringen«, erklärte Dakota und schob das Handy in ihre Hosentasche. Kay griff unter Dylans linken Arm, Ansgar unter den rechten und hoben die Frau vom Boden hoch. Sofort fiel ihm auf, dass sie lediglich einen Fuß belastete. »Vorsicht mit dem rechten Fuß«, bemerkte Ansgar und deutete darauf. Gemeinsam brachten sie die Blondine mit vielen Pausen zur Krankenstation. Dem diensthabenden Arzt erklärte er kurz seinen Verdacht und welche Werte er haben wollte. Als er ihre Hand und ihren Fuß untersuchte, schüttelte er nur den Kopf. »Die sind gebrochen.« »Das dachte ich mir.« Dylan wurde ausgezogen und ein Körper voller Blutergüsse in allen Farben des Regenbogens kam zum Vorschein. Ansgar wollte schreien. Es war wie bei Dakota und Matheis. Auch Kay war die Wut und Verzweiflung anzusehen. Vorsichtig wurde Odebrecht in eines der Betten gelegt. Offenbar bemerkte ihr Körper, dass er jetzt herunterkommen durfte. Zuvor war sie wie eine Puppe gewesen. Sie hatte nichts registriert, sich nicht bewegt. Doch als sie lag und ihr Körper zur Ruhe kam, zuckte sie zum ersten Mal zusammen und sah auf. Ihr Blick fiel auf Ansgar, ihren Vorgesetzten, denn er stand direkt neben ihr. War es Zufall? Oder tat sie es bewusst? Sie hielt den Blickkontakt, bis ihr die Augen zufielen. Dann fiel ihr Kopf zur Seite und sie schlief ein. Wann war sie das letzte Mal zur Ruhe gekommen?Dylan 2. Dylan Sie erwachte aus einem komatösen Schlaf mit heftigen Kopfschmerzen. Das Licht, das von draußen durch die Sonne in den Raum fiel, blendete sie und es fühlte sich an wie Schwertstiche in ihrem Kopf. Gequält stöhnte sie auf. Nur langsam drangen Geräusche, Gerüche und Eindrücke zu ihr durch. Sie fühlte sich wie in Watte gepackt und als hätte sie Ohropax in den Ohren. Alles war unnatürlich gedämpft. Wo war sie? Ihrer letzten Erinnerung nach war sie in Afghanistan. Dort war ihr Zimmer nicht so komfortabel wie hier. Zudem war sie nicht allein gewesen. Zu viert hatten sie in einem der Kasernenzimmer gelebt. Hier war es still. Sie schaute sich um, doch es dauerte eine Weile, bis die Informationen in ihrem Kopf ankamen und verarbeitet wurden. Waren es nur Sekunden, Minuten oder Stunden? Was war hier los? Ihr Blick fiel auf ihren Arm, in dem eine Nadel steckte. Sie folgte dem Schlauch, in dem sich eine durchsichtige Flüssigkeit befand, zu einem Beutel, der über ihrem Kopf an einem Infusionsständer hing. Wenn sie sich darauf konzentrierte, spürte sie, wie das Kühle langsam in ihren Arm floss. Ein Schauer überlief sie, denn sie hasste dieses Gefühl. Träge schweifte ihr Blick umher. Es sah aus, als läge sie in einem Krankenzimmer. Doch wo war sie? Als sie aus dem Fenster sah, kam ihr der Ort bekannt vor, aber sie konnte ihn nicht einordnen. Nebel herrschte in ihrem Kopf. Verschwommene Erinnerungen, Fetzen, doch nichts ließ sich fassen und analysieren. Übelkeit überkam sie. Wann hatte sie zuletzt gegessen? Die letzten Wochen waren diffus und nicht greifbar. Oder waren es Monate? Sie suchte die Klingel, die sie von anderen Krankenhausbesuchen kannte, und fand sie an ihrer rechten Seite. Seufzend hob sie die Hand. Wie immer gingen alle davon aus, dass jeder Mensch Rechtshänder war. Als sie den Knopf drückte, überkam sie ein schlechtes Gewissen. Das Personal hatte genug zu tun und sie hatte nur Fragen, die sie später hätte stellen können. Resigniert wartete sie, dass sich die Tür öffnete. Eigentlich wollte sie niemanden sehen. Aber im Moment war sie darauf angewiesen, dass ihr jemand sagte, was hier vor sich ging. Vielleicht würde sie sich dann wieder erinnern, wer sie war und wo sie sich befand. Als die Tür aufging, zuckte sie zusammen und musste vor Schmerz die Zähne zusammenbeißen. Woher kam das? Ein Mann Ende fünfzig mit weißen Haaren und einer kräftigen, durchtrainierten Figur betrat ihr Zimmer und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er füllte den Raum umgehend mit seiner Präsenz. Sie war nicht aufdringlich, aber allgegenwärtig. Er trug ein rosafarbenes Hemd, eine schwarze Anzughose und hielt ein gleichfarbiges Sakko in der Hand. Als er sich umdrehte, blickten sie seine stahlgraublauen Augen forschend an, die von einer randlosen Brille umrahmt waren. Er strahlte Dominanz aus, aber auch Ruhe und Sicherheit. »Odebrecht. Schön, dass Sie wach sind. Mein Name ist Ansgar Kubiak«, stellte er sich vor, blieb vor ihrem Bett stehen und musterte sie. »Sie waren gestern schon bei mir. Ich erinnere mich an Ihre Augen«, sagte sie leise. Es war die einzige Erinnerung, die sie hatte. Aber diese Augen hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt und sie hätte sie unter Tausenden wiedererkannt. »Das stimmt«, bestätigte er ihre Aussage. »Können Sie sich sonst noch an etwas erinnern?« »Nein. Alles ist wie im Nebel. Ich weiß weder, wo ich bin, noch wie ich hergekommen bin«, erklärte sie leise. Ihre eigene Stimme war ihr fremd. »Wenn ich ehrlich bin, konnte ich Ihnen bis gerade nicht einmal sagen, wie ich heiße.« Seine Augenbraue hob sich, aber das war seine einzige Reaktion. Dieser Mann schien sich ausgezeichnet unter Kontrolle zu haben. Kubiak. Irgendetwas klingelte in ihrem Unterbewusstsein, doch sie wusste nicht, wo und was. »Sie sind in Deutschland, in Ihrer Kaserne«, erklärte er ihr. »Sie sind gestern aus Afghanistan zurückgekommen.« Innerlich seufzte sie. Es fühlte sich an wie eine gute Nachricht. Als könnte sie jetzt aufatmen. »Sie waren sechs Monate dort im Einsatz.« Auch daran konnte sie sich nur sporadisch erinnern. Ihr Schädel dröhnte, aber sie brauchte diese Informationen wie die Luft zum Atmen. »Ihre linke Hand und Ihr rechter Fuß sind gebrochen. Außerdem waren Sie mit allen möglichen Substanzen vollgepumpt. Da wir nicht wissen, wie lange Sie diesem Cocktail ausgesetzt waren, bekommen Sie Medikamente gegen die Entzugserscheinungen.« »Bitte was?«, fragte sie völlig verständnislos. »Einige Blutwerte stehen noch aus. Aber die Ergebnisse, die wir haben, sind bemerkenswert.« Einen Moment lang starrte sie ihn an, dann fand sie ihre Sprache wieder. »Ob Sie mir glauben oder nicht, ich habe in meinem Leben noch nie Drogen genommen oder bin in irgendeiner Weise damit in Berührung gekommen.« Lange sah er sie an, schien ihre Worte abzuwägen und ihr Verhalten zu analysieren. So unangenehm es ihr auch war, sie sah ihm in die Augen, ohne den Blick abzuwenden. Sie hatte nicht gelogen, und sie hatte nichts zu verbergen. »Erzählen Sie mir, was Sie wissen.« Es irritierte sie, dass er kein Wort zu ihrer Aussage verlor. War das ein positives oder negatives Zeichen? Doch sie wusste, dass ihre Karriere auf dem Spiel stand. So erzählte sie stockend das Wenige, an das sie sich aus dieser Zeit erinnerte. »Waren das alles Erlebnisse zu Beginn Ihres Einsatzes?«, fragte er. »Ja. Je länger ich dort war, desto mehr scheinen die Erinnerungen zu verschwimmen.« »Das passt.« »Entschuldigen Sie bitte, aber wozu passt das?« »Zu dem Cocktail und der Dosis, die Sie im Blut hatten. Sie haben sich gestern wie eine Puppe verhalten.« »Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wie die Brüche entstanden sind.« Er nickte. Glaubt er mir oder will er mich nur in Sicherheit wiegen? Der Mann macht mich nervös. Seine Augen scheinen mich durchleuchten zu können und ich fühle mich nackt. Wer ist dieser Mann?
Old School - Fall in trust, Band 1
1. Benjamin
​Er stand mit den anderen auf dem Podest der kleinen Aula, die eigentlich nur ein vergrößerter Raum war und sonst als Esssaal diente. Allerdings war sie auch für Versammlungen geeignet. An diesem Tag war die »Einschulung« der neuen Subs im Internat. Sein Blick schweifte durch die Räumlichkeit. Die zwanzig Mädchen waren allein gekommen und er sah bereits von hier oben, dass einige die Kleiderordnung ignoriert hatten. Innerlich seufzte er. Es war jedes Jahr das Gleiche. Ein paar mussten immer ausscheren. Es war sein Job und er mochte ihn. Doch diese ewigen Kämpfe zu Beginn war er leid. Die Neuankömmlinge waren allesamt nervös. Keine sprach ein Wort und alle lauschten der Ansprache des Rektors. Der Mann war sehr beeindruckend mit seiner wuchtigen Statur und der tiefen Bassstimme. Dennoch war er ein feiner Mensch und unglaublich gerecht. Benjamin mochte ihn. Sonst wäre er mit Sicherheit nicht schon so viele Jahre an diesem Ort, den es eigentlich nicht geben durfte.
Thomas, der Direktor des Internats, hatte seine Rede beendet. »Kommen wir nun zur Einteilung«, schloss er, ließ seinen Blick kurz über die Köpfe der Neuen schweifen und sah dann auf das Blatt, das vor ihm auf der kleinen Kanzel lag.
Nacheinander standen die Mädels auf und stellten sich zu den Männern, die ihnen zugeteilt wurden. Zwei junge Frauen waren noch übrig. Eine mit dunklen, wuscheligen, langen Haaren und Schlafzimmerblick und eine Rothaarige. Er war gespannt, welche der beiden zu ihm kommen würde.
»Brec Kellermann?«, fragte Thomas und sah die Dunkelhaarige an. Zögernd erhob sie sich. »Zu Benjamin.« Mit Widerwillen kam sie die Treppe zu ihm heraufgelaufen. Als der Rektor auf ihn zeigte, verfinsterte sich ihr Blick noch mehr. Sie sah zornig aus. Mit einer Armlänge Abstand stellte sie sich zu ihm und starrte stur auf den Boden.
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Oha, eine Rebellin, wie es ausschaut, fuhr es ihm durch den Kopf. Er wusste nicht, ob er sich freute oder eher genervt war. Diese Widerspenstigkeit hatte seinen Reiz. Doch er war mittlerweile auch zu ermüdet von diesen Wesenszügen. Daher fühlte er sich zwiegespalten. Die Rothaarige kam zu Jascha. Die beiden betrachteten sich abschätzend. Nachdem Thomas noch einmal ein paar mahnende Worte ausgesprochen hatte, verließ er die Aula und Benjamins Blick fiel auf seine zukünftige Sub. Sie wirkte sehr ungepflegt. Noch immer sah sie auf den Fußboden. Er trat einen Schritt vor und meinte: »Komm.« Doch sie rührte sich nicht und schien ihn zu ignorieren. Somit wollte er nach ihrem Arm greifen, aber sie wich ihm sofort aus, schlug in seine Richtung und fauchte: »Fass mich nicht an, du Perverser!« Wortlos holte er aus, gab ihr eine ordentliche Ohrfeige, packte sie am Arm und zog sie mit sich. Er hatte ihr nach Luft schnappen vernommen, als seine Hand auf ihre Wange geklatscht war. Die Tränen waren direkt in ihre Augen geschossen und sie starrte erneut stur nach unten. Da das Podest noch recht voll war, hatten viele der anderen Mädchen die Situation mitbekommen. Statt zu zeigen, dass sie sich von ihm nichts sagen ließ, hatte er ihr wortlos klargemacht, dass sie dieses Verhalten zukünftig besser nicht an den Tag legen sollte. Sie war krebsrot angelaufen. Die Treppe hinunter folgte sie ihm, doch im Gang riss sie sich erneut los und wollte türmen. Benjamin war jedoch schneller und packte sie an ihren Haaren. »Aua!«, schrie sie auf und stellte ihre Gegenwehr sofort ein. Wunderbar, damit hatte sie ihm direkt ein Ass in die Hand gegeben und er nutzte es gnadenlos. Wortlos zog er sie hinter sich her zu einem der freien Räume, auf dem sein Name stand. Thomas Akribie war ein Wesenszug, den er sehr schätzte. Im Zimmer steuerte er direkt zu einem Pfosten, der mit einer kurzen Kette versehen war. Er ergriff diese, bog die Arme des Mädchens mühelos auf den Rücken, sicherte die Armbänder damit und klinkte den Haken an ihrem Halsband ein. Alles war so kurz gehalten, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte, ohne sich zu würgen oder die Schultern auszukugeln. Ihrem wütenden Schreien schenkte er keinerlei Beachtung, sondern verließ den Raum, schloss die Tür und ging zu seiner Wohnung, die er auf dem Gelände bewohnte. Jeder der Doms hatte seine eigenen vier Wände, die er in der Zeit mit seiner Sub bewohnte, die sie bei ihm war. Dieses kleine Biest darf nun erst einmal etwas abkühlen. Was für ein Benehmen. Von seinem Küchentisch schnappte er sich den Fragebogen und las ihn auf dem Weg zurück durch. Es handelte sich um einen der Räume, die in dem Gebäudekomplex untergebracht waren, die an den Wohntrakt grenzten. Diese wurden gerade in der Anfangszeit zum Kennenlernen genutzt. Manch ein Dom nutzte diese »Klassenzimmer« auch für seine persönlichen Vorlieben wie beispielsweise Rollenspiele. Brec. Ein ungewöhnlicher Name. Er assoziierte ihn mit einem Felsen, hart und widerspenstig. Momentan passte dies sehr gut zu ihr. Aber auch den größten Felsen konnte man formen oder brechen. Letzteres wollte er nicht. Doch das würde er davon abhängig machen, wie sie sich benahm und sie mitarbeitete. Als er den Raum erneut betrat, atmete sie heftig. Sie hatte wohl versucht, sich zu befreien. Wie süß. Keine Chance, Fräulein. Die langen Haare waren ihr ins Gesicht gefallen und verliehen ihr einen noch verwegeneren, aber auch ungepflegteren Ausdruck als zuvor. Wütend schüttelte sie den Kopf, doch die Mähne blieb wie ein Vorhang vor ihren Augen. Wortlos ging er zu ihr, packte ihre Haare, raffte sie zusammen und band das Haarband von seinem Handgelenk geübt darum. »Nimm deine dreckigen Finger von mir!«, fauchte sie und sah ihn aus funkelnden Augen an. Erneut landete seine Hand in ihrem Gesicht. Wieder schnappte sie nach Luft. Nur dieses Mal konnte sie den Kopf nicht senken. Somit sah er ihre Emotionen und Reaktionen. Wut und Fassungslosigkeit. Er stellte sich ans Fenster, legte die Blätter auf die Fensterbank und sah hinaus. ​ 2. Brec ​ In ihr schwelte eine nie gekannte Wut, die sich in maßlosen Hass transformierte. Diese Hilflosigkeit fraß sie auf, zusammen mit der Wut auf sich selbst, ihre Eltern, ihn und die gesamte Welt. Was hatten sich ihre Eltern nur dabei gedacht, sie hier abzuladen und in die Hände eines fremden Mannes zu geben? War so was überhaupt erlaubt? Sie wagte kaum, sich zu bewegen. Ständig zog sie sich selbst an dem Halsband, das man ihr bei ihrer Ankunft mit Gewalt angelegt hatte. Ebenso die Arm- und Fußbänder aus Metall. Sie hatte sich gewehrt, als würde man ihr nach dem Leben trachten. Doch sie hatte gegen den Direktor und ihren Vater keine Chance. In diesem Moment war sie sich wie ein Stück Vieh vorgekommen. Ständig schnürte sie sich die Luft ab oder riss an ihren Schultern. So hatte sie es aufgegeben. Eigentlich war es nett von dem Typen, ihr die Mähne aus dem Gesicht zu binden. Doch sie wollte ihm nicht danken müssen. Für nichts. Er war nicht besser als ihre Eltern und alle anderen hier. Wie konnte man hier arbeiten und sich fürs Vögeln bezahlen lassen? Kam er sich nicht billig vor? Am liebsten würde sie ihn anspucken, nach ihm treten und aufs Übelste beschimpfen. Allerdings ahnte sie, wie das enden würde. Die zwei Ohrfeigen hatten ihr bei Weitem gereicht. Die Scham war kaum zu ertragen, von den Schmerzen abgesehen. Sie wollte nicht heulen wie ein kleines Kind und doch konnte sie die Tränen nicht zurückhalten. Ihr wütender Blick fiel auf den Kerl am Fenster. Er hatte einen breiten Rücken. Sein blondes Deckhaar war lang und zu einem Dutt gebunden, während unterhalb alles rasiert war. Sie hatte noch nie bei einem Mann einen Undercut-Schnitt gesehen. Es passte zum ihm. Seine Beine steckten in schwarzen Hosen. An den Füßen waren schlichte, weiße Sneakers und er trug einen grauen Strickpullover, der locker an seinem Körper herunterfiel. Im Gegensatz zu ihr sah er sehr gepflegt aus. Doch Brec war ihr Aussehen egal. Sie hatte nicht vor, darauf Wert zu legen, nur weil der Lackaffe das wollte. Gefühlt vergingen Stunden. Ihre Füße und Knie schmerzten immer mehr und sie verlagerte ständig ihr Gewicht. Inzwischen hatte er mehrfach den Raum verlassen, war wiedergekommen, stand mal am Fenster, mal an die Wand gelehnt. Ganz gleich, was er tat, er sprach kein Wort und schien sie auch nicht zu beachten. Sie wurde müde, hatte Durst und Hunger und sehnte sich nach Ruhe. Nicht mal hinsetzen konnte sie sich, da ihre Befestigung dies nicht zuließ. Mittlerweile war es draußen dunkel geworden. Immer öfter fiel ihr Blick auf Benjamin. Dieser Typ besaß offensichtlich eine stoische Ruhe, die sie stetig wütender machte und zeitgleich anekelte. Schlussendlich sah sie ein, dass nur er sie aus dieser Situation befreien konnte. Keiner würde ihr helfen. Sie hatte in all der Zeit nicht mal eine andere Person gesehen außer ihn. Doch es dauerte, ehe sie sich überwinden konnte. Mehrfach versuchte sie, die Worte zu formen. Aber sie blieben ihr sprichwörtlich im Hals stecken. Schließlich war die Verzweiflung zu groß. Die Schmerzen in ihrem Körper raubten ihr die Nerven. Ihre Hände waren mittlerweile taub. Eingeschlafen. Sie schluckte mehrfach, schloss die Augen und brachte mit mühsam ein »Es tut mir leid« hinaus. Zunächst dachte sie, er habe sie nicht gehört. Innerlich schrie sie wütend auf. Sie würde ihn nicht noch einmal um Verzeihung bitten wollen. Gerade als sie erneut ansetzen wollte, drehte er sich herum und betrachtete sie. Die Hände hatte er in den Hosentaschen. Still beobachtete er sie. »Ach, und was tut dir leid?«, fragte er mit Desinteresse. Sie musste sich zusammennehmen, um nicht erneut völlig auszuflippen. Warum konnte er sie nicht in Ruhe lassen? »Ich hätte  ... nicht so frech sein dürfen.« Seine Augenbraue zog sich in Richtung seiner Stirn. »So. Frech nennst du das also.« Er stieß sich von der Fensterbank ab und kam mit langsamen Schritten auf sie zu. Brecs Herz begann laut zu schlagen. Sie wollte weg von ihm. Schnell. Dicht vor ihr blieb er stehen. »Ich würde es eher unter den Begriffen unverschämt und anmaßend einordnen.« Sie zuckte zusammen und ihr wurde klar, dieser Mann würde ihr Leben hier nicht vereinfachen. Im Gegenteil. Er war ihre Eintrittskarte in die Hölle. Auf diese Aussage wusste sie nichts zu antworten. Vermutlich war ihr Blick genauso hilflos, wie sie sich fühlte. Was verlangte er von ihr? Dass sie einen Kniefall machte und sich entschuldigte? Ausgiebig musterte er sie. Brec war sein Blick unangenehm, denn sie konnte sich vor ihm nicht schützen. Weder körperlich noch seelisch. Seine Ruhe brachte sie an den Rand eines Tobsuchtsanfalls. »Es tut mir wirklich leid«, versuchte sie es erneut. »Das wage ich zu bezweifeln«, zerschnitt er ihre Worte regungslos. »Du hältst es nur vor Schmerzen langsam nicht mehr aus. Das ist der wahre Grund für dein Einlenken. Halt mich nicht für blöd.« Ihr schoss die Röte ins Gesicht. »Das stimmt«, gab sie leise zu. »Wow«, bemerkte er spöttisch. »Du kannst ja doch ehrlich sein. Welch ein Wunder.« Sie ballte die Hände zu Fäusten, aber sie verzichtete auf Widerworte. Einen Moment sah er sie noch abschätzend an, dann drehte er sich wortlos herum und verließ erneut den Raum. Mit offenem Mund sah Brec ihm nach. War das sein Ernst?
Old School - Out of hell, Band 2
1. Jascha
​​Mit verschränkten Armen stand er mit den anderen Männern auf dem Podest und ließ seinen Blick durch die Menge schweifen. Der Jahrgang schien spannend zu werden. Einige der jungen Frauen waren verlegen und schüchtern, sie wussten nicht, wohin sie schauen sollten. Andere wie die Rothaarige in der letzten Reihe beobachteten alles scheinbar gelassen und mit einem gewissen Desinteresse. Doch er kannte die ganze Prozedur schon eine Weile. Keine der Frauen hier war entspannt. Zumindest nicht in der ersten Zeit, denn die wenigsten wussten, was auf sie zukam.
Thomas, der Direktor, hatte seine Rede beendet und die Einteilung begann. Er war der einzige Mann, der noch nicht aufgerufen worden war. Genau wie die Rothaarige. »Nyke zu Jascha.« Langsam erhob er sich und auch sie schien es nicht eilig zu haben, zu ihm zu kommen. Seine Augenbraue hob sich. Offenbar wollte sie direkt seine Nerven testen.
Oh, Lady, tue das nicht. Du wirst es bitter bereuen.
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Er kam ihr keinen Schritt entgegen, sondern stand stur mit verschränkten Armen da und beobachtete sie unverhohlen. Als sie das bemerkte, zuckte sie zusammen und ein unsicheres Flackern trat in ihre Augen. Innerlich grinste er. So selbstbewusst, wie sie sich gab, war sie bei Weitem nicht. Als sie endlich bei ihm war, blieb sie in einiger Entfernung von ihm stehen. Er ließ sie, denn die meisten Mädels taten dies. Als ob sie das vor den Doms schützen würde. Aber das würden sie schnell lernen. Thomas richtete noch einige mahnende Worte an die zwanzig Schülerinnen. Dann verließ er das Podium. Die ersten Männer zitierten die ihnen zugeteilten Frauen zu sich. Ironischerweise machte nur eine von ihnen Ärger. Benjamins. Doch er beendete das Ganze wie immer kompromisslos mit einer saftigen Ohrfeige. Die Kleine war so geschockt und beschämt zugleich, dass sie sich kommentarlos von ihm mitziehen ließ. Offenbar war das für seine eine stumme Warnung. Er sah ihr an, dass sie über das Geschehene entsetzt war. Ihr Blick glitt von ihm zu Benjamin und dann zu Brec. Tja, da musst du durch. Er machte einen Schritt auf sie zu. »Komm«, forderte er sie auf. »Ach ja, bevor du meinst, testen zu wollen, ob wir alle so ticken, würde ich es an deiner Stelle lassen. Aber es ist deine Entscheidung.« So selbstsicher wie zuvor sah sie ihn nicht mehr an. Er ging zur Treppe. Als er sich umdrehte, stand sie immer noch wie angewurzelt da und starrte ihn an. »Wird's bald?«, fuhr er sie scharf an. Endlich löste sie sich aus ihrer Starre und folgte ihm, wenn auch mit einem gewissen Sicherheitsabstand. Solange sie funktionierte, ließ er sie. Vorerst. Vor dem ihm zugewiesenen Klassenzimmer blieb er stehen und öffnete die Tür. »Wenn ich denn bitten darf«, forderte er und deutete in den Raum. Zögernd trat sie ein, nachdem sie offenbar abgewogen hatte, ob sie gefahrlos an ihm vorbeigehen konnte. Die Metallbänder, die Thomas ihr zuvor um Arme und Fußgelenke angelegt hatten, klapperten bei jedem Schritt leise. An ihrem Hals prangte ein Halsband aus Metall. Er schloss die Tür hinter sich. Sie drückte sich an die hintere Wand. Eingehend musterte er sie, während er sich an den Schreibtisch lehnte. Nervosität hatte sie ergriffen. Jedoch war sie nicht rebellisch. Bislang. Ihre langen, roten Haare reichten ihr bis zum Hintern und erdrückten fast ihr zartes, porzellanfarbenes Gesicht, während ihre blauen Augen nervös durch den Raum huschten. Er griff nach dem Fragebogen, der auf dem Tisch lag, und las die Angaben. Süße achtzehn war sie. Aber wie er es schon von ihren Vorgängerinnen kannte, hatte auch sie nicht alles ausgefüllt. Es war jedes Jahr dasselbe. Er schätzte die Informationen ab, die er hatte. Die Größe schien zu passen, das Gewicht auch. Sie war sehr athletisch gebaut und hatte ein ziemlich breites Kreuz. Das war ungewöhnlich für eine so junge Frau. Aus ihren Angaben ging hervor, dass sie seit Jahren Schwimmerin war, teilweise im Leistungskader ihres Bundeslandes. Damit hatte sie sich seinen Respekt verdient. Disziplin war sie wohl gewohnt. Mal sehen, wie viel davon hier noch übrig bleibt, wenn ich mit dir angefangen habe. Wie ein Tier im Käfig tigerte sie an der hinteren Wand auf und ab. Die ersten Minuten ließ er sie gewähren, doch dann ging er dazwischen. »Kannst du mal still stehen?«, fragte er genervt. Abrupt bremste sie ab und sah ihn erschrocken an. »Entschuldigung.« Obwohl sie sich zusammenzureißen versuchte, war ihre Nervosität nicht zu übersehen. So griff er nach den Papieren, ging zur Tür und forderte sie auf, mit ihm zu kommen. Erstaunlicherweise kam sie der Aufforderung nach, auch wenn sie einen gewissen Sicherheitsabstand zu ihm hielt. Er führte sie zu seiner Wohnung, öffnete die Tür und ließ sie eintreten. Den Fragebogen legte er auf den Küchentisch. Dann ging er mit ihr in ein Zimmer, wo ihre Koffer standen. »Zieh deine Sportsachen an«, forderte er sie auf, »dann kommst du in die Küche. Du hast zehn Minuten.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ den Teil seiner Wohnung. Auch er zog sich um und wartete in der Küche. In der Zwischenzeit trank er Wasser aus der Flasche und schaute hinaus. Das Wetter war heute trüb. Seltsamerweise war das oft so, wenn ein neuer Jahrgang kam. ​ 2. Nyke ​ ​Was hatte er mit ihr vor? Nervosität beherrschte ihr Denken und sie war mit der Situation völlig überfordert, denn der Typ machte ihr Angst. Er war undurchschaubar und unnahbar. Außerdem sah er sehr gut aus und Nyke wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie war es gewohnt, mit Männern zurechtzukommen. Aber nicht auf diese Art. Er war anders. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es mit ihm nicht einfach werden würde. Im Gegensatz zu allen anderen würde sie ihn nicht um den Finger wickeln können. Sie schlüpfte in ihre Sportkleidung und band sich die Haare zusammen. Dann holte sie tief Luft und suchte die Küche. Die Wohnung wirkte groß. Aber die Türen waren alle verschlossen und so blieb nur ein Weg. Er stand an der Anrichte mit dem Gesicht ihr zugewandt. In der einen Hand hielt er eine Flasche Wasser, mit der anderen lehnte er sich an die Wand und schaute hinaus. Als er sie bemerkte, drehte er sich um und sah demonstrativ auf die Uhr. »Mit der Pünktlichkeit hast du es nicht so, oder?«, fragte er kalt und musterte sie. »Entschuldigung, ich habe keine Uhr.« »Ja, Generation Handy. Nimmt man euch das Gerät weg, seid ihr verloren.« Da sie sich ertappt fühlte, schwieg sie. Seine ernste Ironie und Bissigkeit irritierten sie. Eigentlich waren die Typen um sie herum immer nervös. Doch er war anders. Allein sein Name. Jascha. Sehr ungewöhnlich. Unter dem hautengen T-Shirt waren Muskeln und Tattoos lugten hervor. Eines zog sich sogar über seinen Hals bis zum Nacken. Auf den Unterarmen war auch etwas verewigt. Er drückte ihr noch eine Wasserflasche in die Hand und befahl ihr, ihm zu folgen. Auch jetzt achtete sie darauf, etwas Abstand zu ihm zu halten. Er schüchterte sie ein. In dem Flur, den sie zuvor durchquert hatte, stieß er eine Tür auf. Sie sah viele Fitnessgeräte. Als sie im Eingang stehen blieb, forderte er sie auf, einzutreten. Vorsichtig folgte sie seiner Aufforderung. Am Laufband angekommen, stellte er den Bildschirm ein. »Beweg dich da drauf«, befahl er. Auch dem kam sie nach, versuchte aber weiterhin, etwas Abstand zwischen sich und ihn zu bringen. »Dreißig Minuten solltest du ja problemlos schaffen.« »Ich versuche es«, antwortete sie eingeschüchtert. Er musterte sie. »Ich hätte dich nicht für ein Weichei gehalten.« Als sie aufblickte, sah sie ihm zum ersten Mal in die Augen. Sofort zuckte sie zurück. Zwei verschiedenfarbige Augen fixierten sie. Ein blaues und ein braunes. »Bin ich auch nicht«, antwortete sie mit einem gewissen Trotz in der Stimme, den sie nicht unterdrücken konnte. »Aber ich bin Schwimmerin und keine Läuferin. Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied.« Seine Augenbraue hob sich. »Fahr die Krallen ein, Lady. Sonst stutze ich sie dir. Ich habe absolut keine Toleranz für solche Zickereien.« »Ich habe nicht gezickt«, stellte sie richtig. »Ich habe lediglich auf den Unterschied hingewiesen.« Schweigend musterte er sie von oben bis unten. Dann drückte er wortlos auf den Startknopf und Nyke musste um ihr Gleichgewicht kämpfen, denn sie hatte nicht mit dieser abrupten Bewegung gerechnet. Elender Arsch, schoss es ihr durch den Kopf. Als sie das nächste Mal auf das Display schaute, hatte er die Zeit auf fünfundvierzig Minuten erhöht. Ohne ein Wort zu sagen. Unglaublich. Sie wollte ihn fragen, ob er sie verarschen wolle, aber er war bereits am anderen Ende des Raums und schenkte ihr keine Beachtung mehr. Anfangs sah sie ihm noch beim Stemmen der Gewichte zu. Doch schon bald musste sie sich auf ihr Laufband konzentrieren. Statt gemächlich im gleichen Tempo bleiben zu können, hatte er ein Programm eingestellt, das Nyke massiv forderte. Es simulierte einen Lauf durch hügeliges Gelände mit etlichen Steigungen. Der Schweiß lief ihr in Strömen den Körper hinunter. In Gedanken verfluchte sie ihn. Ausgiebig. Doch keines dieser Worte kam über ihre Lippen. Sie wollte ihn nicht herausfordern. Schließlich wusste sie noch nicht, wie er tickte. Außerdem erinnerte sie sich an die Reaktion des anderen Typen in der Aula. Das hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Die Bänder an ihrem Körper klapperten, die ihr zuvor im Büro des Direktors angelegt worden waren, und gaben bei jeder Bewegung ein Geräusch von sich. Daran und an deren Gewicht musste sie sich erst gewöhnen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter. Seit sie denken konnte, trug ihre Mutter die Arm- und Fußfesseln und das Stahlband um den Hals. Nun sah sie nicht anders aus. Irgendwann ertönte ein Pfeifton und das Laufband wurde immer langsamer. Nyke schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Hastig griff sie nach der Wasserflasche, schraubte sie auf und trank in tiefen Schlucken, während sie keuchend durch die Nase atmete. »Vom Leistungskader ist beim Laufen aber nichts zu merken«, erklang Jaschas Stimme neben ihr. Vor Schreck hätte sie sich fast verschluckt. Sie stellte die Flasche ab und warf ihm einen bösen Blick zu. »Schwimmen ist auch kein Laufen!« Erneut zog sich seine Augenbraue hoch. »Fahr deinen Ton runter, Lady. Sonst fahr ich dich gleich runter. Von einem grünen Gemüse wie dir lasse ich mich nicht anfahren. Haben wir uns verstanden?« Sie sah auf ihre Haut und konnte nichts Grünes entdecken. Ehe sie ihm dies sagen konnte, packte er ihr Halsband am Ring und zog sie daran in Richtung Boden. »Verkneif dir den Kommentar.« Zwangsläufig beugte sie den Kopf. Am liebsten wollte sie Gegendruck erzeugen, aber sie wagte es nicht. Sie kannte diesen Typ Mann. Sie konnte nur verlieren. So wartete sie geduldig ab, bis er sie wieder auf Augenhöhe zog. »Danke«, sagte sie leise und verlegen. Diese Situation war ihr peinlicher, als sie zunächst gedacht hatte. Mit einem Nicken ließ er sie los, wandte sich ab und ging zum Ausgang. Wortlos schaltete er das Licht aus und verließ den Raum. Nyke atmete tief durch, dann folgte sie ihm langsam. Sie fand ihn im Badezimmer, wo er gerade ein paar Sachen aus dem Schrank holte und in die Dusche stellte. »Geh duschen. So wie du aussiehst, hast du es nötig«, sagte er in einem kühlen Ton. »Danach kommst du in die Küche und wir essen.« Sein Blick fiel auf die Uhr. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum. Innerlich atmete Nyke auf. Sie wollte sich nicht vor ihm ausziehen. Auch wenn sie wusste, dass sie es auf Dauer nicht vermeiden konnte. Aber im Moment hätte es sie enorme Überwindung gekostet. Der heutige Tag war ohnehin zu verwirrend und sie wusste gerade nicht, wohin mit sich und ihren Gefühlen. Mechanisch zog sie sich aus, legte ihre Wäsche in den Wäschekorb und betrat die geräumige Dusche. Das warme Wasser löste ihre verkrampften Muskeln allmählich. Was für eine Wohltat! Nach einer Weile wusch und rasierte sie sich und verließ schweren Herzens den behaglichen Kokon. Rasch trocknete sie sich ab, bürstete ihr Haar und schlüpfte in den bereitliegenden Bademantel. Noch einmal atmete sie tief durch, bevor sie die Küche betrat. Jascha saß am Tisch und tippte auf seinem Handy herum. Nyke durchzuckte ein Stich. So gerne hätte sie ihr Gerät wieder gehabt, um mit ihren Freunden zu schreiben. Aber das würde sie die nächste Zeit nicht tun können. Als er sie bemerkte, sah er auf und musterte sie aufmerksam.